Das Drama „Systemsprenger“ hat bei der Berlinale den Alfred-Bauer-Preis erhalten.

Zündstoff in Neonpink“  – betitelt „DIE ZEIT“ ihre Filmkritik nach der furiosen Weltpremiere des Films „SYSTEMSPRENGER“ von Nora Fingscheidt am 08. Februar 2019 auf der Berlinale, der im Herbst in die Kinos kommen wird. Ein Film, welcher den Kinosaal zweifelsfrei in seinen Bann zieht – Voller Energie und gleichsam voller Mitgefühl. Fachlich präzise recherchiert und gleichzeitig eine fesselnde Geschichte, die sich im Berlinale Wettbewerb – da sind sich die Kritiker einig – nicht zu verstecken braucht…

Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf, hat die Regisseurin bei ihren Recherchen über viereinhalb Jahre begleitet und war bei der Premiere in Berlin dabei. Im Anschluss an diesen Film stellen sich viele Fragen:

„Systemsprenger“ ist ein schwieriger Begriff.

Viele Menschen denken, „Systemsprenger“ sei ein negativer, das Kind stigmatisierender Begriff. Deshalb ist dieser Begriff auch in der Fachwelt umstritten. Es gibt aber auch keine „besseren“ Alternativbegriffe.

Negativ ist der Begriff nur, wenn ich das „System“ für ausnahmslos „gut“ halte. Schließlich zeigt „Bennie“ im Film doch auch die Schwachstellen des Systems auf (fehlende Plätze in „guten“ Einrichtungen, zu hohe Fallzahlen in den Jugendämtern, Gesellschaftliche Marginalisierung der Kindsmutter), wodurch ihre „Sprengkraft“ auch Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.

Gleichzeitig handelt es sich um ein Phänomen, bei dem jeder im sozialen Bereich Tätige sofort Assoziationen hat und implizit „weiß“, worum es geht. Der Begriff fokussiert weniger den individuellen Menschen als das Problem der Hilflosigkeit der Helfer und Hilfesysteme (wie im Film dargestellt!). „Systemspenger sein“ ist somit keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern das Ergebnis vieler gescheiterter Systemprozesse, die dazu führen, dass für „ein Kind wie Bennie“ in unserer Gesellschaft kein Platz ist – nicht mal mehr tief im Wald.

Ist die geschilderte „Geschichte“ realistisch?

Ja, der geschilderte Verlauf sowohl was das hilflose Ringen der Helfer als auch was die Verhaltensmerkmale des Kindes angehen, könnte so in der Realität existieren.

Gibt es viele solcher Kinder?

Das ist schwer zu sagen, da es wenig Forschung hierzu gibt. Jugendhilfemaßnahmen werden aus vielerlei Gründen vorzeitig beendet, das Verhalten des jungen Menschen ist dabei nur ein Aspekt.

Eine Studie aus dem Jahr 2010 (Baumann 2010: Kinder, die Systeme sprengen) hat ermittelt, dass im Untersuchungszeitraum innerhalb von zwei Jahren 412 Kinder allein Niedersachsen auf Grund von schwierigem Verhalten aus den Maßnahmen „herausgeworfen“ wurden. Verschiedene Wissenschaftler (Menno Baumann, Mathias Schwabe) gehen davon aus, dass ca. 5% aller jungen Menschen, die mit der Jugendhilfe in Kontakt kommen, auf Grund ihres schwierigen Verhaltens nicht ausreichend versorgt und untergebracht werden können. Dies entspräche etwas mehr als 4000 Kinder und Jugendliche in Deutschland.

Nicht alle diese Kinder erleben eine solche Odyssee wie „Bennie“ in dem Film. Die meisten von Ihnen erleben vier bis maximal sechs Abbrüche/ Rauswürfe, können dann aber im Rahmen intensivpädagogischer Betreuung in oft sehr spezialisierten und personalintensiven Settings im Inn- und Ausland stabilisiert werden.

Welche Perspektiven gibt es für diese Kinder?

Aktuelle (und z.T. auch schon etwas ältere) Forschungen zeigen, dass es einige wichtige Aspekte für die Arbeit mit solchen jungen Menschen gibt, wodurch sich die Chance auf „tragfähige Hilfen“ erhöhen. Hierzu gehören:

  • Eine gute Diagnostik im Sinne eines pädagogischen Fallverstehens
  • Flexible Settings, die gut ressourcentechnisch ausgestattet sind und somit auf besondere Bedarfe und Vorkommnisse schnell und unbürokratisch reagieren können
  • Gute „Sicherheitsnetzwerke“ durch Supervision, Fachberatung und gezielte Teamentwicklung (inkl. Fortbildungen) für Mitarbeiter*innen.

Was ist ein Systemsprenger? – (Versuch einer Definition – Prof. Dr. Menno Baumann/Studiengangsleitung M.A. Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule)

Zum Master-Studiengang Soziale Arbeit – Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe