Gemeinsam mit Prof. Dr. Gunther Graßhoff, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim, hat Prof. Dr. Markus Sauerwein, Professor für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit an der Fliedner Fachhochschule, das Buch „Rechtanspruch auf Ganztag. Zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen“ herausgebracht. Im Interview berichtet er, was Anlass und Ziel des Buches sind und inwiefern das Thema für die Soziale Arbeit relevant ist.

Herr Sauerwein, was hat es mit dem Rechtsanspruch auf Ganztag auf sich? Wie ist es aktuell geregelt?

Aktuell haben nicht alle Kinder bzw. Eltern einen Rechtsanspruch auf schulische Ganztagsbetreuung. Das ist in der Kindertagesbetreuung bspw. anders: Wenn man keinen Kita-Platz bekommt, hat man trotzdem einen Rechtsanspruch darauf, d.h., der Staat muss dafür sorgen, dass das Kind eine alternative Betreuungsmöglichkeit findet. Die schulische Ganztagsbetreuung ist aktuell nur ein Angebot, das man nutzen kann, auf das man aber keinen Rechtsanspruch hat. Das soll durch die Gesetzesänderung ausgebaut und verbessert werden, sodass alle Kinder bis zur Grundschule tatsächlich die Möglichkeit haben, ganztägig betreut zu werden. Es muss dann für alle einen Platz geben und das bundesweit.

Durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Ausgaben kann es sein, dass das Ganze sich nach hinten verschiebt. Geplant war es den Rechtsanspruch auf Ganztag ab 2025 zu etablieren. Diskutiert wird nun ein Rechtsanspruch ab 2026 beginnend ab der Jahrgangsstufe eins. Der Anspruch wird in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet. Ab 2029 hätten dann alle Kinder in der Grundschule einen Rechtsanspruch.

Inwiefern leistet Ihr gemeinsam publiziertes Buch einen Beitrag zum Thema Rechtsanspruch auf Ganztag? Was ist das Ziel des Buchs?

Wir würden den Diskurs gerne wieder stärker sozialpädagogisch begleiten. Der bildungspolitische Diskurs war lange Zeit auf die Betreuungsmöglichkeiten für Eltern begrenzt. Uns geht es darum, nochmal darauf aufmerksam zu machen, dass es hier eigentlich um Kinder geht, um die Zeit von Kindern. Kinder werden dabei schnell als kleine Erwachsene betrachtet, die darauf vorbereitet werden, später einen tollen Job zu haben, um der Gesellschaft dann wieder möglichst viel zurückzuzahlen. Mit den verschiedenen Beiträgen möchten wir daran erinnern, dass Kindheit und Jugend auch spannende Lebensphasen sind, in denen man viel Freiheit erlebt, seine Persönlichkeit entwickelt und erprobt. Und dass eben nicht alles unter einem schulischen oder ökonomischen Aspekt gesehen werden muss, bei dem es nur darum geht, den Eltern das Arbeiten zu ermöglichen, sondern eher den Anspruch verfolgt, Kindern qualitativ hochwertige Erfahrungen qua Angeboten bereitzustellen.

Die jüngste Pressmitteilung vom BMBF sieht den Ganztag jedoch erneut als Instrument der Förderung, Betreuungsfunktion für Mütter und Väter und vor allem als wirtschaftspolitisches Instrument. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer anderen Perspektive auf den Ganztag

Wie kann die Soziale Arbeit dazu beitragen? Wo liegen Schnittmengen zwischen Sozialer Arbeit und Schule?

Aus unserer Sicht ist Ganztagsbetreuung ohne konzeptionelle und methodische Expertise der Sozialen Arbeit nicht denkbar. Schule und Kinder- und Jugendarbeit sollten zusammenarbeiten, sich wechselseitig ergänzen und dazu bietet unser Sammelband verschiedene Einblicke in strukturelle Möglichkeiten der Umsetzung.

Früher gab es relativ klare Grenzen zwischen Schule und Sozialer Arbeit, durch die Ganztagsbetreuung verschwimmen diese. Sehr viel, das ursprünglich sozialpädagogische Arbeit war, hat sich in die Schule verlagert. Ein Vorteil daran ist, dass dadurch eine viel größere Anzahl an Kindern erreicht werden. Wenn man sich ein klassisches Jugendzentrum vorstellt, müssen die Kinder nach der Schule am Nachmittag erstmal den Weg dorthin finden. Wenn die Aktivitäten aus dem Jugendzentrum aber in der Schule stattfinden, dann erreicht man aufgrund der Schulpflicht potenziell alle Kinder. Zudem kann sich auch die Chancengleichheit erhöhen, weil viele Angebote sehr niedrigschwellig zugänglich gemacht werden. Das Kind braucht bspw. keinen Elternteil, der es nachmittags durch die Stadt zu einem bestimmten Sportverein fährt, sondern kann es einfach mal ausprobieren.

Auf der anderen Seite hat sich durch den Ganztag aber auch die Arbeit verändert, z.B.  werden Sozialpädagoginnen und -pädagogen plötzlich eher als Lehrkräfte wahrgenommen und die Beziehung zu Kindern und Jugendlichen wird automatisch eine andere. Es gibt eine Aufsichtspflicht, obwohl Freiwilligkeit für die Soziale Arbeit in vielen Bereichen ein grundlegender Faktor ist. Im Jugendzentrum muss das Angebot so attraktiv gestaltet werden, dass Kinder und Jugendliche freiwillig teilnehmen, in der Schule muss dieser Anspruch nicht zwingend verfolgt werden.

Dann ist die nächste Frage: Wie sieht es mit den Betreuenden aus? Die Ganztagsbetreuung muss nicht zwingend von Fachkräften gestaltet werden, was dazu führen kann, dass es nur noch um die Betreuung geht und nicht um die Bildungsinteressen der Kinder und Jugendlichen selbst.

Wird das Thema Ganztag bzw. Soziale Arbeit und Schule auch im Studium der Sozialen Arbeit behandelt?

Ich persönlich versuche das Thema möglichst viel aufzugreifen, bspw. im Schwerpunktbereich Kinder- und Jugendhilfe. Auch Schulsozialarbeit wird aus meiner Sicht immer relevanter. Auch unter den Studierenden habe ich in den letzten Jahren vermehrt das Interesse an einem Praxissemester im Ganztag wahrgenommen, was aber meine subjektive Einschätzung ist. Bundesweit wird das Thema Soziale Arbeit und Schule aktuell kaum im Studium der Sozialen Arbeit behandelt. Das muss sich ändern, wenn die Studierenden darauf vorbereitet werden sollen auch an und mit Schulen zu arbeiten. An Schulen sind sie die erste Fachkraft der Sozialen Arbeit und stehen dem Lehrerkollegium gegenüber – mit oftmals vierzig Lehrkräften und mehr, sollen andere Perspektiven vertreten und mit Lehrkräften zusammenarbeiten